Im internationalen Vergleich nachhaltiger Politikgestaltung verfügt Deutschland über eine ganze Reihe von Trümpfen. Die Demokratie ist robuster als in vielen anderen EU- oder OECD-Staaten, seine Beschäftigungs- und Sozialpolitik ist sehr umfassend aufgestellt. Auch die Evidenzbasierung der Politik oder die Voraussetzungen für den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft können sich sehen lassen. Deshalb ist Deutschland im Ranking viel besser positioniert als etwa andere G7-Staaten wie Japan, Frankreich oder Kanada. "Diese gute Ausgangsposition darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei Deutschlands Dauerbaustellen zuletzt nur wenig Fortschritte gab. Seit 2010 hat es keine große Strukturreform mehr gegeben. Weder beim Föderalismus, dem Thema Staatsmodernisierung, dem Arbeitsmarkt, in der Sozialpolitik oder in der Steuerpolitik", sagt unser Experte für nachhaltige Politikgestaltung, Christof Schiller. "Seine im internationalen Vergleich günstige Ausgangsposition bietet nun eine hervorragende Gelegenheit, diese Baustellen entschieden anzugehen."

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Nachhaltiges Regieren: Deutschland muss jetzt seine Probleme lösen, um im Ländervergleich oben zu bleiben
Deutschlands Ausgangsposition für nachhaltiges Regieren ist gut: Im OECD-Ländervergleich zu den Voraussetzungen langfristorientierter Politikgestaltung landet Deutschland unter 30 Staaten auf einem fünften Platz. Besser schneiden nur Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen ab. Doch die für die Analyse der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung ausgewerteten 144 Indikatoren zeigen auch: Ohne gezielte Anstrengungen bei der Stärkung seiner Demokratie, der Transformation der Wirtschaft und der Modernisierung des Sozialstaats könnte Deutschland schon bald seine gute Position verlieren.
Inhalt
Seit 2010 hat es keine große Strukturreform mehr gegeben. Weder beim Föderalismus, dem Thema Staatsmodernisierung, dem Arbeitsmarkt, in der Sozialpolitik oder in der Steuerpolitik.
Christof Schiller, Experte für nachhaltige Politikgestaltung bei der Bertelsmann Stiftung
Stärkung der Demokratie spielt eine wichtige Rolle
Dabei spielt die Stärkung der Demokratie eine zentrale Rolle. Zwar scheint das demokratische System in Deutschland gesünder und widerstandsfähiger zu sein als in manch anderem Staat. Doch gerade im Innenleben der Demokratie ist das Bild durchwachsen. Bei der interministeriellen Koordination liegt Deutschland nur auf einem 18. Platz. Nachholbedarf gibt es beim Thema Krisenvorsorge und zielgenauer Gesetzgebung. Auch bräuchte es deutlich mehr Anstrengungen, um eine vertrauensvolle parteiübergreifende Zusammenarbeit demokratischer Akteure zu organisieren. "Wie wichtig es ist, neben den zentralen demokratischen Institutionen auch den Maschinenraum der Demokratie – also etwa das Parlament und die Verwaltung - zu stärken, wird uns derzeit in gleich mehreren Industriestaaten leidvoll vor Augen geführt" sagt Schiller.
Grundlage des Rankings sind die 144 Indikatoren der Sustainable Governance Indicators, mit denen sich die Fortschritte bei der Umsetzung einer nachhaltigen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik in 30 EU- und OECD-Staaten detailliert vergleichen lassen. Die Indikatoren erlauben auch Aussagen über den Zustand der Demokratie in den einzelnen Staaten und sie zeigen, wie gut das Regierungssystem aufgestellt ist, um vorausschauend zu agieren.
Umsetzung von Klimaneutralität und zirkulärer Wirtschaft sind wichtige Aufgaben
Eine wichtige zukünftige Aufgabe besteht darin, die Umsetzung von Klimaneutralität und zirkulärer Wirtschaft mit klarer Ausrichtung voranzutreiben. An dieser Stelle rangiert Deutschland im Ländervergleich auf dem siebten Platz. Auch in anderen Bereichen der wirtschaftlichen Transformation belegt Deutschland allenfalls Positionen im besseren Mittelfeld. Beim Thema "Modernisierung der kritischen Infrastruktur" reicht es nur zu einem neunten Platz, noch schlechter sieht es bei der Beschleunigung der Energiewende aus (Rang 15). Dass das Steuersystem dringend vereinfacht werden muss sowie Investitions- und Beschäftigungsanreize gestärkt müssen, zeigt ein 16. Platz in diesem Politikfeld.
Die Modernisierung des Sozialstaats ist eine weitere der Großbaustellen. Die Auswertung der SGI-Kategorien zeigt, dass die Stärkung der Bildungsqualität und -gerechtigkeit ganz weit oben auf die Aufgabenliste gehört (Rang 17). Dringenden Handlungsbedarf gibt es bei der nachhaltigen Integration von Migrant:innen (Rang 20). Bei den Themen Geschlechtergerechtigkeit (Rang 9) und Stärkung von Familien (Platz 11) hat Deutschland ebenfalls Aufholbedarf. Besondere Aufmerksamkeit verlangt auch das Rentensystem. Bei der Aufgabe, die Rente "demografiefest" zu machen liegt Deutschland nur auf Rang 21.
Es gibt gute Beispiele in der europäischen Nachbarschaft
Die Ansätze für Reformen muss Deutschland nicht eigens erfinden. Es reicht, sich bei den Nachbarn umzusehen. Die SGI-Daten zeigen, wie gut es beispielsweise Norwegen gelungen ist, politische Extreme einzuhegen und ihnen so den Nährboden zu entziehen. Die Schweiz ist vorbildlich dabei vorgegangen, seine kritische Infrastruktur zu schützen. "Und Dänemark hat sein Rentensystem demografie- und armutsfest ausgestaltet und viel für die Stärkung der Familie getan," sagt unser Wirtschaftsexperte, Thorsten Hellmann.
Materialien
Zusatzinformationen
Der SGI-Datensatz bietet eine umfassende Ressource für den Vergleich und das Nachalten von Politikfortschritten zur Stärkung demokratischer Kontrollmechanismen, der Gestaltung einer nachhaltigen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik und vorausschauender Regierungsführung in 30 OECD- und EU-Staaten. Die Grundlage für den Ländervergleich bilden 144 Indikatoren sowie umfassende Ländergutachen. Die Leistungsperformanz eines jedes Landes wird in einem aufwändigen mehrstufigen Review-verfahren durch ein internationales Expertennetzwerk ermittelt. Mehr als 100 Wirtschafts-, Umwelt-, Politik- und Sozialwissenschaftler sind an jeder Erhebungsrunde beteiligt und bringen ihre internationale, ländervergleichende, methodische, regional- und länderspezifische sowie fachlich-sektorale Expertise in den Erhebungsprozess ein.